Roter Lippenstift

Sie geht in den Park und setzt sich auf eine Bank. Lässt die Menschen an sich vorbei ziehen, als wäre sie kein Teil dieser Masse. Sie schweigt, weil Alleine sein zuweilen ein Luxus ist.

Oder sie geht in ein Café. Sie hat kein Rendez-vous und mit niemandem abgemacht. Vielleicht möchte sie einfach den Mann neben ihr sehen, dessen Haar so schütter ist wie die Falten zahlreich in dem bleichen Gesicht. Die Bedienung, Pferdeschwanz, schwarze Jeans und ein üppiger, sehr rot geschminkter Mund, bringt den Kaffee: Schwarz. Sie mag den Milchschaum nicht, der modern oben wie eine Wolke thront.
Die ältere Dame füttert die Hälfte ihres Kuchens an einen kleinen, dicken Hund. Er sitzt unter dem Tisch, sein Bauch hängt auf ihre roten Ballerinas.
Braucht sie einen Grund, um hier zu sitzen? Vielleicht. Also gräbt sie in ihrer Tasche, sehr gross und voller Dinge, die sie nicht braucht, und fördert ein Buch zu Tage. Ein belangloser Titel, nichtssagendes Cover. Sie kann so tun, als würde sie darin lesen und über dem Rand die Leute beobachten.

Sie sind aufs Land gezogen, der Kinder wegen. Die brauchen frische Luft und die Möglichkeit, auf Bäume klettern zu können. Ist es nicht so?
Bisher kannte sie nur die Melodie der Stadt: Hupende Autos, die Bahn, das Rumpeln des Müllwagens, frühmorgens. Grüne Wiesen und Berge mochte sie am Liebsten in Dokus am TV oder auf Gemälden in einer der Ausstellungen. Als er ihr das Haus zeigte, in dem er ihr die zwei geplanten Kinder machen wollte, rutschte sie mit ihren Schuhen auf der Wiese aus.
(Ihre erste Anschaffung sollten Regenstiefel sein mit einer dicken Sohle. Sie pfiff auf Stil und kaufte sie im Laden für Landwirtschaftsbedarf.)
Sie hat sich daran gewöhnt, an die Luft, die Stille um sie herum und hat sich angewöhnt, wann immer es geht, in die Stadt zu fahren.

Dann setzt sie sich auf eine Parkbank oder in ein Café und tut so, als würde sie lesen. Sie inhaliert das pulsierende Leben, den Lärm der Autos, die Frauen mit roten Lippen, so rot, als würden sie ausbluten.
Nach zwei Stunden und drei Kaffees, schwarz wie die Nacht, zittert sie ein bisschen, wenn sie ihre Tasche nimmt und durch die Glastür geht. (Zuviel Koffein macht sie immer nervös.) Wenn sie bei ihrem Auto angelangt ist, gräbt sie das erste Mal seit Mittag das Handy aus der Tasche. Sie liest die Nachrichten mit zusammengekniffenen Lippen. "War bei der Kosmetikerin, fahre jetzt heim." Schreibt sie zurück, richtet sich die Haare im Rückspiegel und startet den Motor.

Vielleicht sollte sie sich auch mal wieder einen knallroten Lippenstift kaufen. Sie würde das nächste Mal die Bedienung im Café fragen, welches rot sie trägt.

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